Von W. SIEBERT geb. LÜBKE
Ende Februar – Anfang März 1945:
„Es war ein sehr kalter Winter mit viel Schnee. Vom Krieg hatte man noch nicht allzuviel bemerkt. Erst als die ersten Glüchtlingstrecks aus West- und Ostpreußen zu uns kamen – entfernte Verwandte eines Onkels, die übernachteten, sich sattaßen und weiterzogen – wurde auch in meinem Elternhaus beratschlagt.
Zu unserer Familie gehörten außer meiner Schwester noch die Schwester meines Vaters , die wegen der Bombenangriffe auf Duisburg (ihr Mann war im Bergbau) zu uns gekommen war. Ich war noch nicht ganz neun Jahre alt und konnte diese Überlegungen überhaupt nicht begreifen. Anders wurde es, als ein Pferdewagen zur Flucht hergerichtet wurde. Betten, Wäsche, Geschirr und Verpflegung wurden verpackt. Als es dann losgehen sollte, kam der Befehl vom Ortsbauernvorsteher aus dem Dorf, wir dürften das Dorf noch nicht verlassen.
Mein Vater wurde dann zum Volkssturm eingezogen. Als wieder nachgefragt wurde, wann die Flucht erlaubt sei, hatte der Ortsbauernvorsteher bereits mit seiner Familie das Dorf verlassen.
Wir zogen mit unserem Wagen, gezogen von zwei Pferden, ebenfalls los und kamen ganze drei Kilometer weit ins Nachbardorf Rützow. Dort saßen wir im Kessel fest. Umringt auf der einen Seite von deutschen Soldaten, auf der anderen von näherrückenden Russen. Über uns sahen wir die feindlichen Tiefflieger, Bomben schlugen neben unseren Wagen ein, die Pferde mussten gebändigt werden, im Dorf brannte es an vielen Stellen. Es wurde bereits dunkel, und so war der Himmel eine Feuerkugel.
Die Straße war voll von Flüchtlingen mit Handwagen, Pferdegespannen und verletzten Soldaten. Das Vieh der Dorfbewohner lief wildbrüllend umher. Unseren Wagen mussten wir stehenlassen, die Pferde wurden ausgespannt, und wir kamen bei einem Bauern unter. Die Zimmer waren voller Flüchtlinge, und auch deustche Soldaten, die ihre Uniformen auszogen, waren dabei. Auf einmal war auch unser Vater da, wir waren erstmal froh.
Russiche Soldaten kamen, wir mussten die Hände erheben, uns ergeben – es war der 6. März zwischen zwei und vier Uhr morgens. Uri, Uri, wurde immer wieder gerufen, mein Vater wurde seine Taschenuhr los; Mutter wurde kurz zuvor der Ehering durchgefeilt, da er sich nicht vom Finger streifen ließ. Bei anderen Frauen wurde der Finger einfach abgeschnitten.
Als es Morgen wurde, suchten wir noch verzweifelt unseren Wagen, aber in dem Chaos von toten Soldaten, herumliegendem toten Vieh, ausgeplünderten Trecks und wildgestikulierenden russischen Soldaten konnten wir uns nach Hause schleichen.
Mein Elternhaus bot einen entsetzlichen Anblick. Im Wohnzimmer lag Stroh auf dem Fußboden – durchziehende Soldaten hattem hier übernachtet – , in der Küche herrschte ein völliges Durcheinander, Geschirr lag zerschlagen auf dem Fußboden, das Vieh war aus den Stallungen geholt worden. Ein humpelndes, herrenloses Pferd konnte mein Vater auf der Wiese einfangen.
So dachten wir an neuen Anfang. Doch es kamen immer wieder russische Soldaten, die plünderten, raubten und auch vergewaltigten. Meine Mutter, meine Tante und meine Schwester versteckten sich deshalb auf dem Heuboden. Es ging gut. Allerdings sollte mein Vater erschossen werden, da er versucht hatte, den Russen eine Seite Speck im Stroh zu verschweigen.
Nach ca. vier Wochen kam ein berittener Mongole und eröffnete uns, dass wir in zehn Minuten unseren Hof zu verlassen hätten. Eine furchtbare Aufregung ergriff uns. Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, als ein Leiterwagen ankam, bereits besetzt mit anderen Dorfbewohnern, den auch wir besteigen mussten. So mussten wir nun endgültig Haus und Hof verlassen, ohne auch nur das Geringste in der Eile mitnehmen zu können. Wir wuerden auf das 2 km entfernte Gut Ober-Aalkist getrieben. Hier musste mein Vater in der Geschirrkammer arbeiten, meine Mutter und Tante in der Küche bzw. auf dem Feld.
Ein knappes Jahr dauerte es, bis wir im Juni 1946 abermals einen Leiterwagen besteigen mussten. Wir wurden abtransportiert, aber keiner wusste wohin. Meine Eltern befüchteten, dass es nach Sibirien gehen würde, und auch ich begriff den Ernst der Lage und hatte füchterliche Angst. Wir kamen in Labes, einer Nachbarstadt an und wurden in einem Viehwaggon mit vielen anderen Menschen zusammengepfercht. In Stettin bemerkten wir dann, dass wir in Richtung Westen fuhren.
Nach Aufenthalten in Stettin-Frauendorf, Lübeck und Segeberg und vielen Entlausungsajtionen in den Lagern, erreichten wir nach ca. vier Wochen die Sportschule Flensburg-Mürwick, die zu einem großen Flüchtlings- und Vertriebenenlager umfunktioniert war. Hier verbrachten wir einige Tage und wurden dann über Schleswig-Holstein verteilt. Wir kamen nach Gnutz.
Durch die vielen Erzählungen meiner Eltern und Verwandten über unsere Heimat und auch durch meine Erinnerungen, war es für mich der größte Wunsch, dort wieder einmal hinfahren zu können. Dieser Wunsch ging Pfingsten 1973 in Erfüllung, ein zweites Mal mit den Kindern im Juli 1984.
Wenn auch unser Hof einer Wildnis gleicht, der dort wohnende Pole nicht der allerfreundlichste ist, so entschädigt die herrliche und unberührte Landschaft und die Herzlichkeit der anderen Polen.
Für mich ist es und bleibt es Heimat.
Waltraut SIEBERT, (abgedruckt im Dramburger Kreisblatt Nr. 2, 1986, Seite 12)